Donnerstag, 13. Juni 2013

So wär‘ ich doch ein Vogel




So wär‘ ich doch ein Vogel

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, sagt Finn, als er der Erzieherin sein Bild zeigt. Ein Haus, ein Baum, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich in den Himmel fliegen und meine Großmutter besuchen. In meinem Schnäbelchen würd‘ ihr dieses Bild hier bringen und ihr erzählen, was Mama und ich hier unten so ganz ohne sie machen.“

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, klagt Martha, als sie ihr Büro verlässt. Ein Fenster, ein Auto, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich davonfliegen, in eine fremde Stadt, dem Alltag entfliehen. Ich würd‘ die Dinge tun, die ein Vogel tut. Gedankenlos und frei.“

„So gern wär‘ ich ein Vogel!“, bedauert Klaus, als er aus dem Fenster seines kleinen Zimmers schaut. Ein Bett, ein Stuhl, ein Vogel. „Wär‘ ich ein Vogel, würd‘ ich ein letztes Mal meine Flügel ausbreiten, all die fernen Länder bereisen, mir die Welt von oben anschauen und dann merken, wie klein und vergänglich wir Menschen doch sind.“



„Doch bin ich nur ein Mensch“, sagt Finn und faltet sein Bild zwei Mal. Ein Haus, ein Baum, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und besuch‘ Großmutter am Grab.“ Er kniet nieder, legt sein Bild auf das Grab und erzählt, wie gut es ihm und seiner Mutter auch ohne sie geht.

„Doch bin ich nur ein Mensch“, klagt Martha und öffnet die Tür ihres Kleinwagens. Ein Fenster, ein Auto, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und tu‘ meine Pflicht.“ Und so fährt sie nacht Hause und bereitet sich gedankenverloren seelisch auf den nächsten Tag vor, welcher all den anderen Tagen zuvor gleichen wird.

„Doch bin ich nur ein Mensch“, bedauert Klaus und erhebt sich mit viel Mühe von seinem Platz. Ein Bett, ein Stuhl, ein Vogel. „So bin ich ein Mensch und merk‘ nun, wie klein  und vergänglich wir Menschen doch sind.“ Er legt sich in sein Bett und denkt daran, wie viel er doch verpasst hat.

Samstag, 16. März 2013

Redner


Ich bin ein Redner. Ein Akrobat in einer Manege voller Zuhörer. Wir alle sind Redner. Wir jonglieren mit Worten und nennen es sprechen. Wir sind gut in dem, was wir tun und doch sind wir uns zu selten bewusst, wann Worte machtvoll sind und wann sie wie Seifenblasen zerplatzen.

Wir sprechen von Toleranz und Akzeptanz. Von Rücksichtnahme und Gleichheit. Davon, dass alle Menschen gleich viel wert sind und jeder das Recht hat, gleich behandelt zu werden. Bemerken wir nicht, wie wir jedem hinterher sehen, der nicht in unser Schema passt? Egal ob fremde Religion, andere Hautfarbe, oder Behinderung, wir beginnen über Menschen zu tuscheln, zu lästern, zu reden und sprechen ihnen Eigenschaften zu, die nur in unseren Köpfen bestehen. Das Ergebnis ist von Vorurteilen behaftet und doch scheinbar so überzeugend. Wir laufen an Obdachlosen vorbei, und selbst wenn sie uns leid tun, denken wir doch insgeheim, dass sie selbst daran Schuld seien, dass sie so leicht etwas ändern könnten.
Wir reden von Toleranz und Akzeptanz. Von Rücksichtnahme und Gleichheit.

Wir sprechen davon, dass uns die Neuen Medien erschlagen, dass sie uns verdummen. Davon, dass die deutsche Sprache verkommt, eingenommen von Kiezdeutsch und Anglizismen. Doch die 140 Zeichen einer SMS mit sinnvoller Wortwahl und korrekter Grammatik zu füllen, dafür fehlt uns die Zeit. Unsere Gefühle bringen wir nicht mehr durch Worte zum Ausdruck. Doppelpunkt, Strich, Klammer auf oder nein, ich fühle mich eher so Doppelpunkt, Strich, Klammer zu. Fahren wir mit dem Bus oder der Bahn, sind wir umgeben von gesenkten Köpfen mit Genickstarre, alle starrend auf dieses kleine Quadrat in ihren Händen. Es wird sich nicht mehr unterhalten, sondern es findet eine individuelle Freizeitbeschäftigung via Smartphone statt. Für unsere Bildung reicht und das bildende Nachmittagsprogramm von RTL und um zu sehen ob die Sonne scheint schauen wir nicht mehr aus dem Fenster, sondern lesen die Statusmitteilungen über das Wetter unserer Freunde bei Facebook. 
Wir reden davon, dass uns die Neuen Medien erschlagen, dass sie uns verdummen.

Wie sprechen davon, dass unser Geld immer weniger wert ist, dass sich die Schufterei nicht mehr lohnt. Doch haben wir von nahezu allem zu viel und es reicht uns noch immer nicht. Mit unserem weggeschmissenen Essen aus einem Monat könnten wir eine afrikanische Familie ernähren. In unseren Kleiderschränken türmen sich dicke Pullover,  dünne Pullover, Winterjacken, Übergangsjacken, All-Wetter-Jacken, kurze Hosen, 3/4 Hosen, 7/8 Hosen, lange Hosen, Cardigans, T-Shirts und Hemden. Vieles nie getragen und doch gekauft und immer wieder verirren sich neue Kleidungsstücke in unseren Schrank, die das gleiche Schicksal erwartet.
Wir reden davon, dass unser Geld immer weniger wert ist, dass sich die Schufterei nicht mehr lohnt.

Wir sprechen von Umweltbewusstsein und einer grünen Zukunft. Von erneuerbaren Energien, artgerechter Viehhaltung und Bio-Gemüse. Und doch fahren wir jede noch so kleine Strecke mit dem Auto. Fahrradfahren zerstört unsere Frisur, bei 5°C friert unsere Nase, von unseren Fingern ganz zu schweigen, und bei 20°C fangen wir noch an zu schwitzen und zu stinken. Unser Essen soll artgerecht gehalten werden, und manipuliertes Gemüse kommt uns nicht auf den Teller. Doch mehr Geld dafür ausgeben? Warum sollten wir? Den Mehraufwand sollen die Bauern doch gefälligst aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Die Zahl der Vegetarier steigt. Proportional dazu ebenfalls die Anzahl an Wettfressen mit Hotdogs und die Größe der Riesenhamburger.
Wir reden von Umweltbewusstsein und einer grünen Zukunft.

Wir sprechen davon, dass wir in der heutigen Zeit alles schaffen können, wenn wir nur wollen. Doch insgeheim haben wir mehr Zweifel an dieser Aussage, als dass man sie in Worte fassen könnte. Wir sagen, dass wir einfach momentan nicht wollen, der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Man muss ja nicht immer alles auf einmal hinter sich bringen. Und überhaupt sind es ja eh‘ immer die Anderen, die uns unsere Chancen verbauen.
Wir reden davon, dass wir in der heutigen Zeit alles schaffen können, wenn wir nur wollen.


Ich stehe hier, spreche über all die Dinge, über die jeder spricht. Über all die Dinge, über die jeder denkt wie er nur denken mag. In meinem Glückskeks stand: „Du bist was du tust, nicht was du sagst.“ Und doch bin ich nur ein Redner, auf der Schwelle zu all den Dingen, die getan werden können. 
Und ihr?
Wie viele Worte sprecht ihr am Tag? Und mit wie vielen Schritten traut ihr euch, dem Gesagten zu folgen?



Donnerstag, 14. Februar 2013

Wann leben wirklich Leben ist


Schnell erwachsen werden, das war unser Ziel. Es konnte alles nicht schnell genug gehen, wir blickten in die Zukunft und dachten daran was uns alles noch erwartet, was wir für Möglichkeiten haben würden, wenn wir endlich groß sein würden. Früher bedeutete groß sein, erwachsen zu sein. Heute sind viele groß und doch noch Kind. Wie häufig belächeln wir genau diese Menschen, die das Kind in sich bewahren. Kopfschüttelnd verachten wir ihre haltlosen Taten, ihre Späße, ihre Gedankenlosigkeit.
Man hat geträumt, von Dingen so fern wie andere Universen und doch für den Moment so greifbar. Berufswunsch: Prinzessin, Feuerwehrmann und Millionär. Heute verdient der Feuerwehrmann zu wenig, die Prinzessin hat zu wenig Privatsphäre und Millionär werden - wie utopisch. Realität und Traum vermischen sich nicht mehr, seitdem wir meinen erwachsen zu sein. Zu träumen wagen wir nur noch nachts.
Damals waren Mutter und Vater verliebt, weil sie sich geküsst haben. Heute küssen wir und merken, dass so etwas auch ohne Verliebtsein funktioniert. Die Liebe hat uns so oft enttäuscht, dass wir nicht mehr an sie glauben, wenn sie nicht greifbar ist. Wir glauben nicht mehr daran, dass jeder Topf einen passenden Deckel hat. Wir basteln lieber so lange an unserem Partner herum, bis er zu passen scheint und nehmen in kauf uns selbst zu verbiegen, um uns mit perfekter unperfekter Harmonie zu belohnen. Besser abends irgendjemanden an unserer Seite mit unpassendem Deckel, als einsam zu sein. 
Besser haben als sein. Geschenke sind nur noch dann etwas wert, wenn man diesen durch Geld bestimmen kann. Was waren das für Zeiten, als eine gebastelte Karte noch wahre Freude erzielt hat. Von Kindern, gern. Aber doch nicht von einem Bekannten. Freundschaft wird zum käuflichen Gut. Wer Geld hat, hat Freunde. Ob Echte oder nicht, wer bemerkt heutzutage noch den Unterschied.
Fassungslos bewegungslos gefangen in unserem Trott hoffen wir Tag für Tag, dass uns kein Sturm erfasst der unsere Welt auf den Kopf stellt. Veränderungen werfen uns aus der Bahn, doch wir sind uns nicht bewusst, dass genau diese Veränderungen unser Leben interessant machen. Dass es die kleinen unerwarteten Zufälle sind, die unser Leben bereichern. Wir unterdrücken uns selbst und bemerken dies nicht einmal. Große Taten nehmen wir uns vor, die dann auf der Strecke bleiben. Mit so vielen Gedanken an das mögliche Unglück, welches an jeder Ecke auf uns warten könnte, zerstören wir jeglichen Hoffnungsschimmer auf Veränderung. 

Es scheint, als würde man erst dann begreifen, was Kind sein bedeutet, wenn die Verantwortung uns erschlägt. Als würde man erst bemerken, wie bedeutsam Träume sind, wenn die Realität erbarmungslos an unseren Knochen nagt. Wir haben zu viel gehasst um zu sehen, wie viele Arten von grenzenloser Liebe uns umgeben, nach denen wir nicht betteln müssen. Reichtum ist nur dann etwas wert, wenn uns bereits bewusst war wie es ist arm zu sein. Unsere Freiheit kam abhanden, als wir nicht bemerkten, dass wir uns selbst unterdrücken. 
Und so müssen wir alle erst den Abgrund gesehen haben, um zu realisieren, dass wir uns unter blauem Himmel befinden, damit wir erkennen, wann leben wirklich Leben ist. 




Montag, 14. Januar 2013

Von Erfahrungen und Ungläubigen

„Es sind Erfahrungen und die Dinge, die du erlebst, die deine Seele erreichen. Die dich prägen, dich selbst ausmachen. So sät jedes Erlebnis seinen Samen in deine Seele. Es wächst ein Baum daraus oder ein zartes Pflänzchen. Und wenn diese Früchte tragen, ihre Blüten in allen Farben erstrahlen oder ihre Dornen anfangen zu schmerzen und sich ihre Wurzeln tief in dein Innerstes graben, dann erst spürst du, was dich zu dem macht, was du bist. Und glaub mir, mein Kind, Dinge sind schwer zu begreifen, wenn du nicht zulässt, dass sie dich berühren, wenn du nicht zulässt, dass ihre Wurzeln dein Innerstes erreichen, wenn du nicht ertragen kannst, dass ihre Dornen in bereits blutende und triefende Wunden reichen. Du kannst versuchen dich zu verschließen, doch sie werden immer einen Weg finden, Wege, die du dir nicht ausmalen kannst. Und in dem Moment, in dem du denkst, du hättest sie abgehängt, hättest gewonnen gegen das, was dich verfolgt, werden sie in der tiefen, doch unruhigen Nacht dir verdeutlichen, dass sie stärker sind. Stärker als alles, stärker als dein Wille zu gewinnen“, sagte der alte und ergraute Mann zu dem Jungen. 
Und wie er dies alles sprach, voller Wehmut und in Gedanken an all die Kämpfe, die er verloren hatte, beobachtete das Kind, wie sich langsam und gemächlich Wurzeln aus seinen Ohren ihren Weg in die Freiheit bahnten. Sie krochen hinab über seine Schultern und als sie anfingen seine Arme zu umschlingen, hörte man ein leises Knacken. Sein Kinn sank auf seine Brust und ein kleiner Trieb ragte aus seinem Schädel. In rasender Geschwindigkeit wuchs dieser gen Himmel. Die mit Dornen bedeckten Ranken krochen seinen Körper entlang, umschlangen jede Gliedmaße. Sie wurden kräftiger und das Ende jeder Gabelung füllte sich mit zart grünen Blättern und je weiter die Wurzeln sich ihren Weg bahnten, je fester sie ihn umschlangen, desto ausdrucksloser wurde die Mine des Herrn. Seine Augen wurden zu schwarzen Knöpfen, seine Lider senkten sich und seine Falten schienen tiefer zu werden. Seine raue Haut glich der einer welken Frucht und die Kraft wich aus seinem Körper. Die Wurzeln und Ranken schlangen sich immer fester um ihn, die Dornen gruben sich fest in das alte Fleisch. Immer wieder hörte der kleine Junge dieses verdächtige Krachen und auch er wusste, dass langsam jeder einzelne Knochen zerbrach. Wie der Herr langsam auf seinem Stuhl zusammensank, änderten die Blätter ihre Farbe. Während er in sich zusammenfiel, schnell und kraftlos, segelten die braunen, welken Blätter wie in Zeitlupe zu Boden und breiteten sich wie ein dunkler Teppich zu seinen Füßen aus. 
Teilnahmslos betrachtete der Junge das sich ihm zeigende Spektakel. Er war noch jung, dachte er sich. So etwas würde ihm nicht passieren, dachte er sich. Er würde sich niemals geschlagen geben, dachte er sich. Und während er sich seiner Sache so unglaublich sicher war, sich zum Gehen wand, zerfiel all das Gesehene zu Staub. Alles was zurückblieb, war ein kleiner grauer Haufen kleinster Teilchen. Kleine Teilchen, bestehend aus einer Geschichte. Erfahrungen, Erlebnisse, Schmerzen und Liebe. Kopf, Dornen, Herz und Blätter. Ein kalter Wind kam auf und während sich der Junge ein letztes Mal umdrehte, um nach dem Rechten zu sehen, um ein letztes Mal zu überprüfen, ob all das Gesehene wirklich stattgefunden hatte, umhüllte ihn die graue Staubwolke für einen kurzen Augenblick, bevor sie weiterzog. Er vergaß, die Luft anzuhalten. Er vergaß, die Augen zu schließen. Er vergaß, seine Lippen aufeinander zu pressen. „Jedes Erlebnis sät seinen Samen in deine Seele“, dachte er sich und versuchte den staubigen Geschmack in seinem Mund durch mehrmaliges Schlucken zu bekämpfen.


Sonntag, 16. Dezember 2012

Welt ohne Licht


Welt ohne Licht

Manchmal irrte sie so umher, mit Augen zu und Licht aus, nur um zu schauen wie es wohl wäre, nichts zu sehen. Tastete sich durch die Wohnung, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, fühlte die Struktur der Raufasertapete und stoß sich ihre Finger an den Türrahmen. Aber das war dann doch nicht so das Wahre, wenn man wusste man sieht wieder etwas, wenn man die Augen öffnete und das Licht an machte. Das fühlte sich nicht echt an. Und mehr spüren als mit Augen auf tat sie auch nicht. Manchmal enttäuschte sie das, manchmal war sie dann nur froh, wieder sehen zu können wenn das Licht an und die Augen auf waren. Besonders das Glitzern der Sonne auf dem Wasser würde sie vermissen oder den Nebel am frühen Morgen, dachte sie. 
Jetzt, wo es wirklich dunkel war, auch mit Augen auf, wünscht sie sich, sie hätte mehr geübt. Manchmal ging sie einen Teil des Nachhauseweges mit geschlossenen Augen, doch wenn sie das Gefühl bekam zu taumeln, öffnete sie sie ganz schnell wieder und vergewisserte sich, dass sie nicht gleich auf die Straße stolpern würde. Jetzt taumelt sie immer und das auch mit geöffneten Augen. Vielleicht würde dies nicht so sein, wenn sie den ganzen Weg mit geschlossenen Augen gegangen wäre, mit Mut zum Taumeln. Vor drei Wochen war das Licht aus gegangen, einfach so. Keiner hatte sie vorgewarnt, das aus ihrem Spiel Ernst werden würde. Noch immer stößt sie sich die Finger an den Türrahmen und fällt die Treppenstufen hinauf. Das Gefühl, nicht zu wissen, wann die Treppe endet, stört sie am meisten. Sie findet es peinlich noch einen Schritt nach oben zu machen und ins Leere zu treten, wenn keine Treppenstufe mehr vor ihr ist. Das passiert ihr andauernd und immer wieder hofft sie, keiner würde solche Fehltritte bemerken, aber überprüfen kann sie das ja nicht. Das Glitzern der Sonne auf dem Wasser ist ihr egal. Genauso wie der Nebel am Morgen. Mehr vermisst sie die Dinge, die sie noch nicht gesehen hat. Sie wusste vorher nicht, dass man so etwas vermissen kann. Dinge die man gar nicht kennt. Die Leute aus der Gruppe sagen immer, man findet sich irgendwann damit ab, dass es Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann. Sie hat sich nicht getraut zu fragen, ob es normal ist auch zu vergessen wie Dinge aussehen, die man eigentlich schon gesehen hat. Wenn ihre Mutter sagt, der Himmel sei heute so schön blau und sie nicht mehr weiß, was der Unterschied zwischen schönem blau und normalem blau ist, kommt es ihr vor, als wäre sie so zur Welt gekommen. So ganz ohne Licht. Jeden Abend versucht sie sich an all das zu erinnern, was sie schon alles gesehen hatte und jeden Abend scheint sie ein kleines Stück mehr zu vergessen, wie die Welt aussieht.
Wenn sie mit ihren Freunden unterwegs ist, ist alles fast wie damals. Damals, als sie das alles nur manchmal gespielt hat. Das Licht aus und die Augen zu. Und wenn dann jemand ruft „Guck‘ mal!“, oder „Wow, sieht das schön aus!“, dann ist da dieses betretene Schweigen, welches sie durch ein leises Lachen durchbricht. Ironisch antwortet sie „Tut mir leid, das habe ich nicht kommen sehen.“ und ihre Freunde antworten mit einem unsicherem, unechten Lachen. Sie will nicht, dass ihre Freunde sie bemitleiden, dadurch kommt das Licht auch nicht wieder zurück. Sie tut so, als würde ihr dies nichts ausmachen. Doch abends weint sie in ihrem Bett. Dafür sind ihre Augen noch gut, das können sie noch. 
Die Leute in der Gruppe sagen, blind sein schärft alle anderen Sinne. Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen tastet sie ihre Umgebung ab, isst wie jeden Tag eine Scheibe Graubrot mit Erdbeermarmelade und riecht an ihrer Tasse Kaffee. Nichts. Keine Veränderung. Das Geländer der Treppe war schon immer etwas uneben. Sie zählt die Kerben bis zum Ende der Treppe. Auf der Raufasertapete spürt sie nicht mehr, als am ersten Tag, das Graubrot schmeckt alt und fad und den Kaffee riecht sie erst, als sie die Küche betritt. Selbst ihre Mutter riecht den Kaffee schon in ihrem Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. Sie hört nicht besser, sondern anders. Sie erschrickt, wenn die Dielen knatschen, wenn die Tauben auffliegen oder es an der Tür klingelt.
Immer am Bahnhof spürt sie die kleinen Punkte unter dem Geländer. Blindenschrift, nennt sie die sehende Bevölkerung. Doch sie kann sie nicht lesen. Für sie ist das keine Schrift, es sind viele kleine Punkte auf einem Haufen. Seit zwei Wochen versuchen die Leute aus der Gruppe ihr zu Helfen sich zurecht zu finden, Punkte zu lesen, doch sie kann es nicht, egal wie sehr sie sich bemüht. Immer wieder nimmt sie sich einen Stift und schreibt ihre Gedanken nieder. Sie weiß, dass sie die Zeilen verliert. Manchmal bittet sie ihre Mutter, ihr das Geschriebene vorzulesen. Oft kann sie nicht mehr entziffern, was dort auf dem Papier steht. So verstummen ihre eigenen Gedanken und gehen im Geschriebenen verloren.
Manchmal irrt sie umher und stellt sich vor, sie würde ihren Körper verlassen. Leicht umher schweben wie ein Geist, die Dinge betrachtend von oben. Sie sieht dann ihre eigenen Augen hilflos hin und her wandern, ohne etwas zu fixieren. Wenn sie dieses Spiel spielt, kann sie wieder sehen, erinnert sich daran, welches man das schöne Blau am Himmel nennt und wie das Lächeln ihrer Mutter aussieht, wenn sie wirklich glücklich ist. Immer häufiger spielt sie dieses Spiel, nicht nur Zuhause, sondern auch, wenn sie unterwegs ist. Sie braucht keine Punkte zu lesen, sie liest gedruckte Buchstaben. Wenn sie so über sich schwebt, ist sie immer ganz apathisch. Ihre Freunde wissen, dass sie dann nicht wirklich da ist, sondern nur körperlich. Immer wieder wünscht sie sich, dieses Spiel würde auch Ernst werden. Und sie bekommt das Gefühl, je häufiger sie es spielt, desto ernster wird es.











Montag, 12. November 2012

Die grüne Kaffeetasse


Die grüne Kaffeetasse

Die grüne Tasse. Er trank immer aus dieser grünen Tasse. Jetzt stand sie da, am gedeckten Frühstückstisch, ohne Inhalt. Er trank keinen Kaffee, der war ihm zu bitter. Er trank Milch, aber nur, wenn sie aus dem Kühlschrank kam. Er trank kein Glas Milch, sondern eine grüne Tasse Milch. Jetzt stand sie da, leer. Sie stand da schon seit einer Woche und keiner hatte sie bisher bewegt, keiner würde sie jemals bewegen. Wahrscheinlich hatte sich eine feine Staubschicht an ihrem Boden abgesetzt und wenn man hinein pusten würde, müsste man niesen. Ich setzte mich an den Tisch, stellte mir vor, wie er mir gegenüber sitzen würde, seine Witze machend, an seiner Zigarette ziehen und gleichzeitig Zeitung lesend. Er las die BILD. Er mochte es, wie sie ihn durch  provokante Art und Weise zum lachen bringen konnten. Eigentlich las er nicht die BILD, er schaute sie sich nur an. Er las Bilder, manchmal auch die Überschriften. Ich hatte immer die örtliche Zeitung ihm gegenüber aufgeschlagen und ihn über das wahre Leben aufgeklärt. Ich las jetzt keine Zeitung mehr. Ich wusste auch ohne Zeitung über das wahre Leben bescheid. Feine Tabakkrümel lagen über den Tisch verstreut. Seine Tabakkrümel. Er war nicht gut darin, sich seine Zigaretten zu drehen und tat es trotzdem. Durch ihn hatte ich auch damit angefangen, mit dem rauchen. Und so saß ich nun dort, an dem Küchentisch mit seiner grünen Tasse und meiner Zigarette in der Hand. Allein rauchen machte keinen Spaß, es verlor seinen Reiz. Mein Tabak war fast leer, seinen würde ich trotzdem nicht nehmen. 

Zum gefühlt hundertsten Mal faltete ich seinen Brief auseinander. Das Papier fühlte sich dünn an und die vielen Knicke machten das Geschriebene noch unleserlicher, als es durch seine kindliche, unleserliche Schrift war. Der Junge war 25 und schreib noch immer wie ein Grundschüler. Er hatte mit Kugelschreiber geschrieben und jedes einzelne Wort wirkte lieblos auf das Papier geklatscht. „Ihr werdet es auch ohne mich schaffen.“ Warum bitte schrieb er „ihr“? Und warum konnte er sich dieser Sache so unglaublich sicher gewesen sein? Er benutzt dieses Wort „ihr“ als würde die ganze Welt um ihn trauern, als würde sich all das Leid auf tausende Menschen verteilen und sich so immer wieder aufs Neue halbieren um am Ende gar nicht mehr so schlimm zu sein. „Du kannst mein rotes Sofa haben. Das mochtest du doch immer so sehr.“ Dieses hässliche rote Sofa, mit den weißen, schwarzen und gelben Flecken von denen keiner mehr wusste, wovon sie stammen. Dieses rote Sofa auf dem wir abends immer gemeinsam in seinem Zimmer saßen und uns anschwiegen. Kein unangenehmes Schweigen, sondern das unter Freunden, die sich auch stumm verstanden. Auf dem wir gemeinsam einschliefen, obwohl wir eigentlich den Film zu Ende schauen wollten, uns die Müdigkeit dann aber doch besiegt hatte. Das rote Sofa, auf dem wir uns über peinliche Situationen in unserem Leben lustig gemacht hatten, auf dem wir uns in die Arme nahmen, wenn wieder einmal ein Mädchen einen von uns verlassen hatte, das Sofa auf dem er zuletzt saß, auf dem ich  ihn  das letzte Mal gesehen habe, bevor er ging und meinte, ich solle den Brief erst öffnen, wenn ich sein Auto wegfahren höre. Das Sofa, auf dem ich seinen Brief das erste Mal öffnete. Als ob ich dieses beschissene rote Sofa jetzt noch haben wollen würde. Das wäre das erste, was aus dem Fenster fliegt. 

„Das Geld für die nächste Miete liegt unter dem Kopfkissen, mehr kann ich dir leider nicht geben. Aber ich kenne dich, du kommst klar.“ Ja, das Geld für die nächste Miete lag unter dem Kopfkissen. Mehr aber auch nicht. Und was brachte mir das Geld? Als ob ich hier bleiben würde, wenn er nicht mehr da war. Als ob ich es schaffen würde, morgens pünktlich aufzustehen. Als ob ich einen neuen Mitbewohner finden würde, der mein geordnetes Chaos ertragen würde.  Als ob ich hier irgendetwas auch nur ansatzweise wieder auf die Reihe bekommen würde. Als ob ich klar kommen würde.
„Bitte mache dir keine Vorwürfe. Fange nicht an mich zu vergessen, sondern fange an zu akzeptieren, dass ich nicht wieder kommen werde.“ Wer war es, dem er von allem erzählt hatte. Wer hatte ihm zustimmend auf die Schultern geklopft und immer dafür sorgen wollen, dass er seinen Kopf wieder hebt. Wer hat die letzten Tage nur noch genervt geschaut, wenn er wieder einmal niedergeschlagen die Wohnung betreten hatte. Wer vergaß langsam daran zu denken, ihm seine grüne Tasse auf den Frühstückstisch zu stellen und neue Milch zu kaufen. „Bitte mache dir keine Vorwürfe“, dass ich nicht lache.

Ich nahm seinen Brief, faltete ihn sorgfältig zwei Mal in der Mitte, schmiss ihn in seine grüne Tasse und meine nun fast aufgerauchte Zigarette gleich hinterher. Der sich entwickelnde Rauch roch befreiend und nach einer kurzen Zeit überhörte ich das monotone Piepen des Rauchmelders. Ich goss brühend heißen Kaffe in die grüne Tasse. Ohne den Staub vorher raus zu pusten. Warum sollte ich auch? 



Donnerstag, 8. November 2012

Heimat ist, wo du nicht bist.

Heimat ist, wo du nicht bist.

Flucht, der wohl letzte Weg. So endet es jeden Tag. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag. Ich schließe die Tür hinter mir. Die Stimmen dringen durch die geschlossene Tür, scheinen nicht leiser zu werden. Sie dringen in meinen Kopf, lassen nicht los, klammern sich fest, bekämpfen all das Positive, zerstören meine Fantasie, zerstören mich. Ich höre die Schläge, die Gegenstände, die durch das karg eingerichtete Wohnzimmer fliegen. Wann wird er endlich gehen? Niemals, vielleicht wenn er tot ist. 
Gewalt. Heimat ist, wo du nicht bist.

Der Platz am Fluss. Meine Insel in einem Meer voller Unheil. Sie schwirren umher, all diese Gedanken. Würde gern schreien, alle Welt an ihnen teilhaben lassen, sie ertränken oder feiern. Keiner da. Nur die Wellen antworten, doch in einer fremden Sprache. Wer möchte hören, was sonst keiner denkt? Wer möchte sehen, was sonst keiner sieht? Niemand.
Einsamkeit. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich gehe umher, sehe ihn. Er steht, wo er immer steht. Eine von Schatten bedeckte Ecke der Hauswand. Seine viel zu weißen Zähne blitzen auf, als sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet. Seine Grübchen scheinen von mal zu mal tiefer zu werden, genau wie seine Blicke. Warum lacht er immer, wenn ich an ihm vorbei gehe? Er weiß etwas, lacht mich aus. Oder mag er mich? Ich senke den Kopf, schaue zu Boden, würde mich gern auflösen.
Unsicherheit. Heimat ist, wo du nicht bist.

Mein Kopf bleibt unten. Ich beginne zu denken. Kann ich ausbrechen? Ja, nein, ja, nein. Schau dich an. Blass wie eine Leiche, unscheinbar wie Luft, doch der Kopf vernebelt. Bist du wirklich du selbst? Kann ich schaffen, was auf meinem Plan steht? Alle gelenkt von Führern, beeinflusst von Werbung, unterdrückt von sich selbst.
Zweifel. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich hebe den Kopf. Dort, die große Schaufensterscheibe ist wie ein Spiegel, wenn die Sonne so auf sie scheint. Meine schlaksige Gestalt wie ein Schatten, um mich herum bunte, gesichtslose Punkte. Sie rennen umher, als hätten sie keine Zeit. Haben sie keine Zeit? Keine Zeit zu denken, keine Zeit zu fühlen.
Hast. Heimat ist, wo du nicht bist.

Ich wende mich ab. Gehe meinen Weg. Es klopft hinter mir. Immer im Gleichschritt. Rechts, links, rechts, links. Hastig drehe ich mich um. Nichts. Meine Schritte werden schneller. Rechts, links, rechts, links. Ein Lufthauch in meinem Nacken. Ist er etwa da? Direkt hinter mir, ist mir gefolgt, lässt seinen Blick nicht von mir. Ein Blick zurück. Nichts.
Angst. Heimat ist, wo du nicht bist. 

Ich setze den Fuß auf den Bordstein. Hebe mein Bein, hieve meinen viel zu dünnen Körper über das Geländer. Wind weht, der Geruch von Regen. Einen Moment denke ich nach, lasse los. Ein kurzer Flug, alles zieht an mir vorbei. Ich wachse an meinem Mut, bereue nichts. Autos hupen, ich schlage auf. Alles ist vorbei.
Tod. Heimat ist, wo du nicht bist.

Heimat ist, wo solche Gedanken ruhen.